Alexander

Alexander

Ich weiß nicht, warum ich ihn ausgerechnet Alexander genannt habe – normalerweise bin ich bemüht, Personen in Fantasygeschichten auch Fantasynamen zu geben und nicht ausgerechnet den zum Zeitpunkt der Entstehung Platz zwei auf der Hitliste der beliebtesten Vornamen (direkt hinter Leon, aber noch vor Kevin). Vor allem dann nicht, wenn der betreffende Charakter ein rechter Kotzbrocken ist (was ich von Alexander leider sagen muss). Ich kenne zurzeit mehrere Alexanders, einer davon ist sogar Mitglied im Tintenzirkel, und keiner von ihnen hat in irgendeiner Weise Pate gestanden für Alexander von Korisanders Blute. Aber ich bin in der Grundschule mal von einem Alexander schikaniert worden, und vielleicht rächt sich das hier.

Alexander war eine der ersten Figuren überhaupt, die für diese Geschichte entstanden – da er die Hauptperson ist, sollte das auch wohl so sein – ich habe von ihm geträumt, von ihm und Halan, um genau zu sein: Die Szene in der Bibliothek, die ich zum Prolog von Engelsschatten gemacht habe. Die ‚Bibliothek‘ war die alte Dülmener Stadtbücherei, in der ich als Schülerin gejobbt hatte, bevor ich eine richtige Bibliothekarin wurde, und leer war sie deswegen, weil ich seinerzeit – 1994 – mitgeholfen hatte, das Gebäude auszuräumen, als die Bücherei in einen Neubau umzog. In diesem Traum trat Alexander schon so auf, wie wir ihn kennen – als tobsüchtiger, pubertierender Angeber. Und er hieß damals schon Alexander, während Halan noch namenlos war.

Als ich dachte, irgendwie kann man da eine Geschichte draus machen, war nicht geplant, dass Alexander eine größere Rolle darin spielen sollte – die war Halan zugedacht. So vieles war noch nicht geplant, als ich anfing zu schreiben, am 11. Februar 2000, in der Straßenbahn Linie 15 auf Höhe Barbarossaplatz …

Zu dem Zeitpunkt gefiel mir jedoch der Name Anders besser, keine Ahnung, warum – es ist nicht wirklich eine Kurzform von Alexander, sondern von Andreas, und ich assoziiere den Namen immer noch mit Kalle Blomquists Kumpel. So bekam der arme Junge zwei Namen – ich habe das Problem abgefangen, indem die meisten anderen Hauptpersonen auch mehrere Namen bzw. Spitznamen haben. Da er sich selbst aber immer Alexander nennt – Anders bedeutet so viel wie Engelchen, kein Wunder, dass er nicht von jedem so genannt werden will – ist das auch der Name, mit dem ich von ihm denke.

Meine letzte Hauptfigur vor Alexander war Mowsal, der Held aus Die Spinnwebstadt: Ein siebzehnjähriger Lügner, Dieb und Schulschwänzer, der keine Gelegenheit zum Trotzen auslässt. Ich wusste, dass Alexander ziemlich das Gegenteil von ihm werden musste, denn bei der Spinnwebstadt hatte ich zu dem Zeitpunkt einen gewaltigen Hänger, und diesmal sollte alles besser werden. Also wurde Alexander ein Königssohn, er wurde bildschön, stockschwul, und ehrlich. Die beiden haben trotzdem noch einiges gemeinsam, aber das schiebe ich darauf, dass sie in etwa im gleichen Alter sind, Alexander ist ja auch gerade erst sechzehn, als die Geschichte anfängt. Ich habe gerne Helden in dem Alter, weil ihre Persönlichkeiten noch formbar sind und sie viel Entwicklungspotential haben. Sind die Leute erst mal in meinem Alter, sind sie viel zu festgefahren. Darum handeln meine Bücher alle irgendwie vom Erwachsenwerden.

Liebe war nicht geplant – es fällt mir heute sehr schwer, mir Alexander ohne Liebe vorzustellen. Es ist das, was ihn ausmacht – sein wildes, verzweifeltes Verlangen nach Liebe. Nichts davon wäre passiert ohne Zoe und Andrea – wenn ich die Mutter dieser Geschichte bin, sind diese Beiden ihre Taufpaten. Vieles habe ich nur für die zwei geschrieben. Sie malten schöne Männer, die einander liebten. Die Bilder hingen im Flur, überall, ich bewunderte sie. Ich wollte auch daran teilhaben, nur, Malen ist nicht meine Hauptbegabung, also blieb Schreiben. Ich bot Alexander die Liebe an, und er griff zu, riss alles an sich, was er bekommen konnte, und gab sie nicht mehr her. Ich kenne niemanden, der so liebt wie Alexander, zum Glück. Die Liebe zwischen ihm und Halan ist nicht gleichmäßig verteilt, eines Tages wird er ihn erdrücken, oder verschlingen. Aber ich, obwohl ich es schon weiß, will hier nicht zu viel verraten.

Gewalt. Das ist es, was Alexander so oft vorgeworfen wird – dass er sadistisch ist und sich an Schmerzen weidet. Viele Leser hassen ihn wirklich, obwohl sie ihn interessant finden. Ich war früher selbst sehr jähzornig, es hat sich gebessert, als ich erwachsen wurde und lernte, vieles hinunterzuschlucken. Wobei ich heute nicht einmal mehr sicher bin, ob das wirklich eine Verbesserung darstellt. Alexander ist natürlich viel gewalttätiger, als ich es jemals war.

Eines aber hat Alexander direkt von mir geerbt, und das sind seine Hände, seine blutigen Hände, die niemals heilen dürfen. Klingt schrecklich? Ich habe Neurodermitis, das ist, wie inzwischen wohl die meisten wissen, eine Hautkrankheit, die sich vor allem durch quälenden Juckreiz äußert. Was bei mir am schlimmsten befallen war, waren meine Hände, beide, über viele Jahre. Es ist nicht zum Aushalten. Man will nur noch die Fingernägel beider Hände tief in das Fleisch krallen, damit es aufhört zu jucken. Schmerz ist eine Erlösung dagegen. Wenn es anfängt zu bluten, hört das Jucken auf. Jahrelanges autogenes Training und Gut-Zureden von Freunden haben dazu geführt, dass ich meine Selbstbeherrschung stählen konnte und nicht immer gleich bis zum Äußersten gehen musste, aber aus meiner Erfahrung rate ich heute allen Eltern von Neurodermitiskindern, dass sie es sich kratzen lassen sollen, wenn es juckt, selbst wenn es dann blutet, selbst wenn sie es nicht mitansehen können.Das Ignorieren des Juckreizes führt nämlich dazu, dass man lernt, den eigenen Körper auch dann zu ignorieren, wenn der eigentlich etwas zu sagen hat …

Ich wählte dann den kreativen Ausweg – wann immer es mich wirklich schlimm juckte, fiel Alexander über seine Hände her. Wenn das Blut zu quellen begann, ließ die Qual nach, für uns beide. Es ist schändlich, einen fiktiven Charakter für so etwas auszunutzen, aber schließlich ist und bleibt er nur eine erfundene Figur, und muss damit leben. Seit ich im Sommer 2003 aus der schmutzigen Stadt Köln ins grüne Münsterland gezogen bin, hat sich der Zustand meiner Haut drastisch verbessert, und es juckt eigentlich kaum noch, und so können jetzt endlich auch Alexanders Hände mit dem Heilen beginnen.

Alles in Allem ist Alexander ein sehr kaputter Charakter, und wahrscheinlich irreparabel. Er kann nicht mehr lernen, was Liebe wirklich ist, weil er sich schon ein sehr krankes Bild davon gemacht hat, er kann seine eigenen Gefühle nicht verstehen, weil er sie nicht von denen anderer Leute unterscheiden kann, und er ist auch nicht glücklich. Ich habe ihn mehrmals davon abhalten müssen, sich das Leben zu nehmen – bis jetzt ist es mir, zum Glück, immer gelungen, denn er bedeutet mir viel, und ich brauche ihn noch.

Ja, und ich mag ihn. Die Leser mögen ihn hassen, aber ich mag ihn.