Halan

Halan

Am Anfang hatte er keinen Namen. Am Anfang war er nur mein Ich in einem Traum – ich wusste nur, dass es nicht ich war. Ich schrieb die Szene auf – was ich mit den allerwenigsten Träumen mache, mit einem in vier Jahren, wenn es hochkommt – weil er immer noch keinen Namen hatte, schrieb ich in der Ich-Perspektive. Nach einigen Seiten, die im Eiltempo aus meiner Feder flossen, gab ich ihm den Namen Halan, oder Harlan, die Schreibweise variierte anfangs. Im ersten Entwurf des Prologs, als die Engelsgeborenen noch keine waren, trug er eine Uniform mit Wappen, und ein Gesicht hatte er auch noch nicht.

Anders als sein Onkel Alexander, der sehr schnell Gestalt annahm, entwickelte sich Halan eher zaghaft. Passt zu ihm. Er redete wenig, heulte viel, und verhielt sich seltsam. Er ist ein Autist, schloss ich in langen Diskussionen mit Christoph, Zoe und Andrea, irgendwo im Spektrum. Bücher bedeuten ihm mehr als Menschen. Monica nannte ihn eine Flenntüte, und wir konnten uns beide nicht vorstellen, dass er viele Fans haben würde. Zoe liebte ihn.

Zwei Jahre später, als ich die Umfrage auf die Webseite setzte, kristallisierte sich Halan mehr und mehr als ‚Everybody’s Darling‘ heraus. Heute hält er gut fünfzig Prozent der Stimmen. Und ich weiß immer noch nicht genau, warum.

Wenn ich meine Charaktere mit Schablonen einteile, ist er Der Sanftmütige, einer wie Keil in Eine Flöte aus Eis oder Jarit in Die Spinnwebstadt. Ich mag meine sanftmütigen Charaktere, aber ich liebe sie nicht. Halan war der erste von ihnen, der das spürte.

Niemand liebte Halan – sein Vater verachtet ihn, sein Onkel terrorisiert ihn, seine Stiefgroßmutter ignoriert ihn. Seine Mutter ist tot, der arme Junge – aber Kindeserziehung liegt bei den Engelsgeborenen ohnehin nicht in der Hand der Mütter, und Halan lebte schon in der Bibliothek, bevor seine Mutter getötet wurde. Er war drei Jahre alt.

Auch die Bücher liebten Halan nicht, so wie sie nichts und niemanden lieben können, aber Halan fand sich in ihnen wieder. Er war wie sie, ein Hort nutzlosen Wissens, abgestellt, bis man ihn brauchte. Vielleicht handeln die letzten Sätze von mir mehr als von Halan.

Es gab für mich kein Leben ohne Bücher, aber ich hatte es mir so ausgesucht. Bibliothekarin wollte ich werden, die beste Bibliothekarin der Welt. Mit zwölf fing ich an, in der Schülerbücherei zu arbeiten, mit fünfzehn leitete ich sie. Mit siebzehn fing ich als Hilfskraft in der Stadtbücherei an, mit neunzehn studierte ich Bibliothekswesen. Ich liebte die Bücher nicht mehr als die Menschen, doch ich liebte sie. Sie gaben mir Ideen, Wissen, Geschichten – sie waren mein Leben.

Mit fünfundzwanzig hörte ich auf zu lesen.

Es war das Jahr, in dem ich als Buchhändlerin meinen Abschluss machte, hundert Punkte im Mündlichen, von hundert möglichen. Es war das Jahr, in dem ich meine Arbeit verlor, noch in der Probezeit, in dem der Buchhandel mich ausspie. Es war das Jahr, in dem die Arbeit an den Chroniken der Elomaran begann. Später verkaufte ich Lippenbalsam an Apotheken, und die Bücher fehlten mir nicht. Ich log in Vorstellungsgesprächen, wenn ich sagte, sie wären mein Leben. Ich liebte sie, einst, doch nun log ich. Wissen bedeutete viel, Wörter auch, Zahlen auch, aber ein Buch war nur noch eine Hülle für all das. Bücher waren nicht mehr heilig.

Heute lese ich Mangas, Zeitschriften, ab und an ein Sachbuch, Terry Pratchett und Harry Potter. Ich habe den Tintenzirkel gegründet, ich bin Autorin, aber keine Leserin mehr. Verrückt.

Und in diesen Prozess hinein wurde Halan erschaffen, dem es geht wie mir, der die Bücher verliert. Was gewinnt er stattdessen? Die Liebe? Liebt er Anders, oder wird er nur von dessen Liebe erdrückt? Gewinnt er Freiheit, oder verliert er nur seinen Schutz? Diese Fragen werde ich nicht beantworten.

Vielleicht tut Halan es eines Tages selbst.