Jurik

Janek/Jurik

Selten lasse ich eine Gelegenheit aus, zu betonen, dass mir Jurik von allen Charakteren der Liebste ist. Und wer mich kennt, weiß, dass das wieder typisch für mich ist: Ist er nicht das Schäbigste, was ich mir zwischen all diesen überaus bezaubernden Engelsgeborenen aussuchen konnte? Und picke ich mir nicht immer die Schäbigsten raus, die ich bekommen kann?

Es war wirklich schon immer so: Meine Lieblingsfigur in der Öbba, meinem ersten größeren Fantasyprojekt, war ein paranoider Drogensüchtiger mit Totalamnesie. In der Flöte aus Eis war es Felder, der vor die Hunde geht und sich buchstäblich zu Tode säuft. In der Spinnwebstadt erwischte es Mowsal selbst, Lügner, Kettenraucher, noch einer an der Grenze zum Alkoholismus. Finde ich das toll? Bewundere ich solche Leute? Identifiziere ich mich gar mit ihnen? Mag ich sie aus Mitleid für das, was ich ihnen angetan habe, oder bestrafe ich sie, damit sie nicht denken, sie wären etwas Besseres, weil ich sie so sehr liebe?

Ich mag diese Fragen nicht beantworten. Nicht, weil ich es nicht könnte, aber weil ich mir diesen Hauch eines Geheimnisses bewahren möchte.

Jurik könnte mich da verstehen. Er mag Geheimnisse, oder zumindest weiß er, wie man sie hütet. Namentlich sein eigenes, auf das ich hier nicht näher eingehen mag, weil ich keinem Leser die Spannung zerschießen möchte. Es reicht schon, dass nun jeder seinen richtigen Namen kennt – aber kein Leser weiß, was Halan weiß, und kein Leser kann die richtigen Schlüsse aus diesem Namen ziehen. Woher auch? Ob Janek oder Jurik, das macht keinen großen Unterschied.

Tatsächlich war er als Janek geplant. Er kam recht spät in die Geschichte, als ich schon über hundert Seiten geschrieben hatte und mehr und mehr begriff, dass alle meine Charaktere trübsinnig nah am Wasser gebaut hatten. Kein einziger Lichtblick. Keiner, der mal gute Laune verbreitet. So beschloss ich, einen aufgeweckten jungen Mann einzubauen. Janek. Freundliches, offenes Wesen, helle Augen, sandfarbenes Haar. Er sollte der Comic Relief Guy werden. Wer den Jurik kennt, der dabei rausgekommen ist, wird das nur noch schwer nachvollziehen können.

Aber ich habe einen Präzedenzfall: Genau so begann nämlich auch die Karriere von Felder aus der Flöte aus Eis. Und wenn man die beiden Figuren nebeneinanderhält, drängen sich doch die Parallelen auf. Beide heißen eigentlich ganz anders. Beide sind Meister mit dem Schwert. Beide haben Frauengeschichten, beide stecken tief in der Midlifecrisis, und beide saufen. Wow! Kann ich mir mal nicht was Neues ausdenken? Es wird noch dramatisch-ironischer, wenn man weiß, dass Felder bei seinem ersten Auftreten einen verkrüppelten Bettler spielt – und humpelt. Während Juriks Fuß ernsthaft und irreparabel kaputt ist. Ist Jurik also nur so etwas wie Felders gealterter Zwilling?

Tatsächlich veränderte sich Janek zu Jurik nicht durch Felder, sondern durch einen Rollenspielcharakter von mir, einen tschechischen Vampir namens Juri. Und der war seinerseits inspiriert durch eine Figur aus dem Anime The Heroic Legend of Arislan.  Narsus hatte rötliches Haar, war ein großer Stratege, hatte dem Hof den Rücken gekehrt und lebte im Wald, wo er klägliche Bilder malte und dem Wein zusprach. Er humpelte nicht, aber er hatte einen hübschen Gehstock. Juri war ein ehemaliger Oberst, hatte der Armee nach einem Unfall (der ebenso gut ein Anschlag sein konnte) den Rücken zugekehrt, lebte im Böhmerwald, wo er klägliche Bilder malte und dem Wein zusprach. Er hatte eine Katze namens Gagarin, einen hübschen Gehstock mit einem springenden Fuchs als Griff, und einen kaputten Fuß. Sein Spitzname war Liška – Tschechisch für Fuchs. Toller Charakter. Das Einzige, was es mit dem heutigen Jurik nicht gemeinsam hatte, war: Juri war schwul. Und Jurik ist so ziemlich der einzige aus Alexanders Umgebung, von dem man das nicht sagen kann…

Juri der Vampir war für das Großstadtleben nicht geschaffen. Er verließ Prag und die Kampagne, setzte sich im Böhmerwald zur Ruhe, malte seine fürchterlichen Landschaften und Stillleben und ließ sich abgeflaschtes Blut ins Haus liefern. Und auch das – einen Wunsch nach Sesshaftigkeit – hat er seinem literarischen Zwilling vererbt. Selten hatte ich es mit einem Charakter zu tun, der sich so sehnlich Frau, Kinder und Bürgerlichkeit wünschte wie Jurik. Obwohl ich genau weiß, dass Jurik als sesshafter Familienvater kreuzunglücklich sein wird. Er war zu lange im Rachegeschäft tätig. Und wem dieser Satz bekannt vorkommt, der schaue sich den Film The Princess Bride an, und wisse, woher alle meine Felder und Juriks ihren Ursprung haben…

Ungefähr zu dem Zeitpunkt, als ich aus der Vampirrunde ausstieg und Janek zu Jurik mutierte, begann ich meine erste klassische Fantasyrollenspielrunde seit langem, und mangels besseren Konzepts beschloss ich Jurik zu spielen. Einen jüngeren Jurik, der noch nicht humpelt, noch nicht an der Flasche hängt und noch keine Tragik auf sich geladen hat. Also, im Endeffekt war dann das Einzige, was er mit dem Elomaran-Jurik gemeinsam hatte, der Name, der Ehrgeiz und die Haarfarbe. Und, wie sich am Ende herausstellte, der Wunsch nach Sesshaftigkeit, denn dieser Jurik heiratete die Schwester eines anderen Spielercharakters, setzte sich auf seiner Burg zur Ruhe und beschloss, sich bis zum bevorstehenden Weltuntergang lieber seiner kleinen Familie zu widmen.

Da der AD&D-Jurik einen Nachnamen brauchte, nannte ich ihn Mendrion – und was aus diesem Namen geworden ist, lässt sich in Varyns Teil der Geschichte nachlesen.

Und Jurik? Ist und bleibt meine Lieblingsfigur. Was ihn nicht pflegeleichter als andere macht oder leichter zu handhaben – ich kann ihn verstehen, aber er macht, was er will, und läuft ständig in Gefahr, einen kompletten Absturz zu erleiden, was sowohl mich als auch die Leser irgendwann ermüdet. Aber ein kleines Geheimnis von ihm kann ich hier doch noch aufdecken, denn die betreffende Szene wird niemals in einem der Bücher zu lesen sein: Als sie in Schwanenkind den Erben des Engels der Gerechtigkeit aufsuchen und ihm jeweils eine Frage stellen dürfen, erfährt Alexander nie, was Jurik denn nun gefragt hat, nur, dass dieser seine Antwort nicht mochte.

Juriks Frage war: »Wer ist schuld an meinem Unglück?«

Und seine Antwort, selbstverständlich: »Du selbst.«

Und niemand, niemand, niemand soll denken, dass es eigentlich ich war.